Montag, 16. August 2010

Im Familienwagen

Wenn ich mit meiner Enkelin reise, fahren wir im Familienwagen der SBB. Das Klettergestell, die Rutschbahn und die Möbel werden mit grosser Begeisterung in Beschlag genommen. Noch toller wäre es, wenn die Eltern (_oder Grosseltern) auch Gelegenheit hätten, sich hinzusetzen. Leider sind die Plätze allzu oft von «kinderlosen» Reisenden besetzt. Alice H., Thun

Eine Aufforderung, die Sitzplätze für Familien freizugeben, drängt sich ja geradezu auf! Denn es gibt nun wirklich keinen vernünftigen Grund, sich in den Krabbel- und Schreiwagen zu setzen, wenn man selbst nicht mindestens ein Kind dabei hat. Oder sitzen da vielleicht Menschen, die sich unbändig über kleine Kinder und ihr ungestümes Tun freuen? Die Kinder in grossvolumigen Taschen mittransportieren? Oder die selber unglücklich kinderlos geblieben sind? Dann müsste man eine gewisse Nachsicht an den Tag legen. Aber sonst? Weg mit diesen Irrläufern!

Zeigen die «falsch Sitzenden» nach einmaliger, höflicher Bitte, sich woanders hinzubewegen, keine Reaktion, müssen Sie die ganzen Talente Ihrer kleinen Begleiterin ins Spiel bringen: Lassen Sie die Enkelin Lieder singen und krächzen, herumrennen, klettern, springen und an allem herumzupfen, was sich ihr in den Weg stellt. Wer dann noch immer demonstrativ sitzen bleibt, muss komplett stumpf oder vielleicht schon tot sein. Und ganz wichtig: lächeln Sie immer selig dazu, denn Sie müssen auf jeden Fall souverän bleiben, auch wenn Sie innerlich fast explodieren.

Montag, 3. Mai 2010

Anstandsprotokoll

Tut man es oder tut man es nicht; jemandem die Türe aufhalten, der nach mir kommt; im Zug fragen, ist der Platz noch frei; beim Betreten eines Ladenlokals zu grüssen und sich zu bedanken? Ich (57) komme mir hoffnungslos veraltet vor! Zudem, muss ich mich entschuldigen, wenn ich niesen muss? Verena F., Lachen

Liebe Verena, eine scheue Frage zuerst: sind Sie neu hier? Denn nun verhandeln wir hier seit zweieinhalb Jahren wortreich die wichtigsten Fragen des Stils, des Anstands und des zwischenmenschlichen Augenmasses (im öffentlichen Verkehr), und jetzt kommen Sie, und werfen frech all jene Fragen erneut in die Runde, welche wir hier schon alle durchgekaut haben? Tss. Aber nun gut, ich will ein Nachsehen haben und ganz blitzschnell auf Ihre drängendsten Fragen antworten. Ja, ja, ja, ja – und nein.

Etwas ausführlicher? Bitte sehr. Die Türe dem nachfolgenden Mitmenschen aufhalten? Ganz selbstverständlich und ohne Ausnahme, es muss ganz automatisch geschehen. Nach einem freien Platz zu fragen? Aber sicher, gerne mit einem sympathischen Grusswort und ein bisschen Eloquenz, also nicht einfach schnoddrig „’schnofrei?“. Beim Betreten eines Geschäfts zu grüssen und sich beim Verlassen desselbigen zu bedanken? Aber klar, allen anderen Kunden sollte man nichts weniger als einen Fusstritt hinterher reichen! Und schliesslich: sich entschuldigen, wenn Sie niesen? Aber nein doch! Sie tun dies ja nicht aus böser Absicht, sondern weil Ihr Körper rebelliert. Dafür muss man sich allerdings nur im Fall von gröberem Auswurf entschuldigen. Eine Hand oder besser ein Taschentuch vor den Mund zu halten, das wäre aber schon das Mindeste.

Wir wünschen gute und stilvolle Fahrt in unseren majestätischen Bundesbahnen!

Völkerwanderung

Ich habe ein Generalabonnement 1.Klasse und fahre leidenschaftlich gerne Zug. Mich stört aber gewaltig, wenn vor der Ankunft an einem Kopfbahnhof die Massenwanderungen nach vorne einsetzen, durch die Wagen 1.Klasse hindurch. Die meisten Vorbeiziehenden besitzen wohl kein Billett für die 1.Klasse. Ist das Nach-Vorne-Wandern überhaupt erlaubt? Daniel H., Zürich

Ein heisses Eisen, das Sie da anpacken, lieber Reisender! Als die „Basler Zeitung“ Ende 2009 den Fall eines Passagiers zweiter Klasse schilderte, der für seine Anwesenheit in der 1. Klasse gebüsst wurde, gingen die Emotionen hoch wie ein zerstörerischer Tsunami. In über 200 Reaktionen wurde aller aufgestauter Pendlerfrust abgelassen, kombiniert mit einer giftigen Mischung aus Sozialneid und Beamtenhass. Sie können alles im Online-Datenarchiv nachlesen.

Tatsächlich ist allein schon der Aufenthalt im Bereich 1. Klasse ohne ein entsprechendes Billett regelwidrig – auch im Gang oder dem Türbereich. Und damit ich jetzt nicht gleich der Blitzableiter für neue Hasstiraden bin: Das habe nicht ICH mir ausgedacht, sondern die Bahn – die im geschilderten Fall aber auch meinte, dass ihre Kontrolleure „gesunden Menschenverstand“ walten lassen sollten. Es gibt also Ermessensspielraum.

Aus Sicht des Stils und der verfeinerten Lebensführung würde ich sagen: das rituelle Nach-Vorne-Wandern ist anderen Menschen potenziell lästig, also sollte man es sein lassen. Auf dem Perron geht man doch wesentlich unbeschwerter und rascher durchs Leben? Andererseits: Öffentlicher Verkehr ist immer auch eine Frage der Toleranz. Vielleicht widmen Sie sich also künftig besser dem vor dem Fenster vorbeiziehenden Gratispanorama statt der Völkerwanderung im Waggon?

Freitag, 16. April 2010

Schwarzleser

Mich stört es enorm, wenn andere Leute mir beim Zugfahren in meine Zeitung schielen, um gratis mitzulesen. Wie kann ich meinen Unmut stilvoll artikulieren? Leo P., Horgen

Lieber Leo, Ihre rührende Zuschrift scheint förmlich aus einer anderen, längst vergangenen Zeit zu kommen, denn: Heute liest die ganze Welt doch sowieso umsonst im Zuge – es liegen manchmal mehr Gratiszeitungen herum, als Passagiere in den Wagen sitzen. Sie aber haben vermutlich nicht eine solche Schnelllese-Postille in der Hand, sondern eine richtige, abonnierte Zeitung, welche diesen Namen noch verdient. Dazu erst einmal meine herzliche Gratulation. Sie gehören zu einer zwar schwindenden, aber ruhmvollen Gesellschaftsgruppe. Sie sind vermutlich ein etwas altmodischer, aber gepflegter Typ mit Manieren und ordentlicher Garderobe. Vielleicht tragen Sie sogar einen eleganten Hut. Sie haben Stil – und das merken die anderen Passagiere natürlich. Sie fallen mit Ihrer grossformatigen, «echten» Zeitung auf, und Sie erwecken Neugier oder Neid. Die anderen wollen auch so sein wie sie, und deshalb schielen sie Ihnen ständig in die Zeitung. Sie wollen sehen, ob da drinsteht, wie man im Leben zum Erfolg kommt. Seien Sie also nicht kleinkariert, sondern jener grossmütige Mann von Welt, den man in Ihnen sowieso vermutet, und verleihen Sie Teile Ihrer Zeitung an die anderen Passagiere. Geben Sie ganze Bünde zum Lesen weiter! Die anderen sollen ruhig auch einmal sehen, dass es noch Texte gibt, die länger als acht Zeilen sind.

Duftmarken

Leider kommt es oft vor, dass sich jemand zu mir ins Abteil gesellt, der penetrant riechende Parfums oder Deodorants verwendet. Wie kann ich darauf gewaltfrei reagieren? H.J. Hall, per E-mail

Körper- oder auch Mundgeruch gehören zu den letzten grossen Tabus unserer ach so offenen Gesellschaft. Man kann das Problem kaum ansprechen, ohne jemandem empfindlich zu nahe zu treten. Sie sprechen nun aber nicht so sehr das Stinken, sondern einen extensiv aufgetragenen künstlichen «Wohlgeruch» an, der Ihre Sinne irritiert. Ich kenne das gut, denn es gibt für jeden Menschen gewisse Parfums, die man einfach nicht leiden kann oder gar Kopfschmerzen verursachen. Und genau da liegt das Problem: Was für Sie penetrant duftet, ist für andere ein eleganter Wohlgeruch. Es gibt also, anders als beim durch mangelnde Hygiene verursachten Stinken, kein objektiv einklagbares Versäumnis. Früher hätte man noch das Fenster herunter reissen und sich demonstrativ hechelnd in die frische Luft hängen können, doch das ist bei den modernen Bahnwaggons aus verschiedenen Gründen nicht mehr möglich. Es bleibt ihnen also nur die Flucht. Wenn fliehen, wird der wandelnden Parfumwolke die Lust vergehen, sie zu behelligen. Oder verwickeln Sie die Person in ein Gespräch und entdecken Sie trotz der scheinbar inkompatiblen Duftvorstellungen vielleicht gemeinsame Interessen. Das könnte Linderung verschaffen, denn oft kann man einen Menschen ja genau darum nicht «riechen», weil er einem nicht bekannt oder sonst wie unsympathisch ist.

Kinderschreck

Kleine Kinder sind ja süss, aber machen im Zug oft einen Riesenkrach. Muss man die Rotzbengel auf Gedeih und Verderb rumbrüllen lassen und alles wortlos schlucken – oder darf man Ruhe einfordern? Stefan R., Wetzikon

Sie böser Mann Sie! Vor Ihnen hat man uns einst gewarnt: Der Kinderhasser, der jede nicht ganz ausgewachsene Kreatur zutiefst verachtet und sie am liebsten fesseln würde, um sie als Paket verschnürt an den Nordpol zu verschicken! Kleiner Scherz, ja? Denn tatsächlich können wir uns sehr gut in Ihre Situation versetzen und Ihren Ärger nachvollziehen. Kinder sind manchmal einfach die Pest. Vor allem, wenn sie länger stillsitzen müssen und ihnen langweilig wird – also im Zug. Sie beginnen dann zu turnen, zu krähen und sinnlos im Gang auf und ab zu gehen, wobei sie es besonders auf die Mitmenschen abgesehen haben, die sich zu konzentrieren versuchen. Die Bengel glotzen ungefragt auf Laptop-Bildschirme und stellen freche Fragen. Sie müssen das keineswegs schlucken. Es nützt zwar nichts, die Knirpse anzuschnauzen, doch Sie können sich vertrauensvoll an die Erziehungsberechtigten wenden, welche diese Bratzen üblicherweise begleiten. Von ihnen dürfen sie mehr Kontrolle einfordern. Die so Getadelten werden Ihnen natürlich auch nicht gerade um den Hals fallen. Aber damit sollten Sie leben können, denn Sie haben im ganzen Waggon Dutzende neuer Freunde gewonnen, die von Ihrem heroischen Auftreten als Robin Hood der Ruhesuchenden mitprofitieren. Da lohnt es sich also durchaus, ein bisschen den Kinderschreck zu spielen.

Hypnophobie

Ich ekle mich vor Menschen, die im Zug schlafen und mir gegenüber sitzen. Was kann ich tun? Saskia P., Biel

Seit der Mensch dazu übergegangen ist, nicht mehr dort zu wohnen, wo er auch arbeitet, muss er zur Unzeit aus den Federn und schnarcht dann eben im Zug noch ein Weilchen weiter. Nur für Menschen, welche ebenfalls pendeln, ist der Anblick von öffentlich schlafenden Artgenossen einigermassen normal. Alle anderen zucken innerlich zusammen, wenn jemand weggetreten umherhockt. Und oft ist es ja tatsächlich kein schöner Anblick: Die meisten Bahnschläfer sitzen wie halbleere Kartoffelsäcke da und lassen den Kopf zur Seite knicken; manchmal läuft etwas Speichel aus dem halb geöffneten Mund und bildet einen feinen Kontraststreifen auf dem Kragen der Jacke. Seltsam auch jene, die sich in Embryostellung quer auf zwei Sitzplätzen zusammenrollen und so ihre Nacht in den Morgen hinein verlängern. Verboten ist es allerdings nicht, im Zug zu schlafen. Und Lärm macht es auch nicht, aus-ser jemand hat eine schwere Dysfunktion der Atemwege. Vielleicht ist das «Powernapping» zwischen einem halben Dutzend S-Bahnhaltestellen sogar gesund.Sie fragen mich, was Sie gegen Ihre Aversion tun können? Eine gute Frage. Vielleicht schlafen Sie einfach auch? Sie könnten den Schläfern ein geschältes Rüebli in den Mund stecken. Experimentieren Sie! Auch gut: Springen Sie mit viel Geschrei auf und tun Sie so, als wurden Sie eben von einem Insekt gestochen. Und schon ist der Schlafwagen wieder hellwach. Jeden Morgen können Sie das allerdings nicht tun, sonst werfen die anderen Pendler Sie irgendwann aus dem Fenster.